Metropolitan Opera: The Exterminating Angel
  [nicht mehr im Kino - Release: 18. November 2017]
   
 

Aus der Metropolitan Opera New York • Die SchiffbrĂĽchigen von der Strasse der Vorsehung: Der Titel, den Luis Buñuels 1962 in Mexiko gedrehter Film El ángel exterminador (wörtlich: „der Vernichtungsengel“) ursprĂĽnglich tragen sollte, bezeichnet die Protagonisten mit einer eindringlichen Metapher. Die „SchiffbrĂĽchigen“ sind eine Schar von distinguierten Damen und Herren, die nach einer OpernauffĂĽhrung der Einladung zu einem exklusiven Diner gefolgt sind. Das Floss, auf dem sie von der Aussenwelt abgeschnitten treiben, ist der Salon in der luxuriösen Villa des Gastgebers Edmundo de Nobile. Land ist ĂĽberall in Sicht, die TĂĽr zum angrenzenden Raum steht offen; doch obwohl keinerlei Hindernisse zu erkennen sind, ist niemand dazu fähig, die Schwelle zu ĂĽberschreiten. Buñuel, dem es stets zuwider war, seine Werke durch Worte zu erläutern, bemerkte in typischer Lakonik: „Was ich in dem Film sehe, ist, dass eine Gruppe von Leuten nicht tun kann, was sie möchte: ein Zimmer verlassen – es ist die unerklärliche Unmöglichkeit, eine ganz einfache Lust zu befriedigen. Das gibt es oft in meinen Filmen.“ Und dennoch: Wie kommt es zu dieser mysteriösen Unfähigkeit? Und wessen „Opfer“ sind diese Leute?

Alles beginnt scheinbar normal, mit den vertrauten Ritualen, mit denen die elitäre Gesellschaft sich gerne selbst bestätigt. Aber irgendetwas stimmt nicht: So finden manche Rituale zweimal statt, so als würden sie sich verselbstständigen – etwa der Einzug der Gäste oder der Toast auf die Opernsängerin –, und unter der lächelnden Oberfläche der gepflegt-unverbindlichen Konversation lauern irrationale Impulse, die die Grenzen der Etikette, der Vertraulichkeit und der Scham immer wieder verletzen. Diese beunruhigenden, doch letztlich harmlosen Fauxpas weichen Kontrollverlusten bedrohlicherer Natur, als die Gäste zu Eingeschlossenen, zu Gefangenen des Salons werden. Zunehmend zurückgeworfen auf die blosse Sicherung des eigenen Überlebens zerbröckelt die Fassade der Kultiviertheit, der gesellschaftlichen Konventionen und Masken. Trotz der Bemühungen, Moral und Manieren zu wahren, brechen Aggressivität und Barbarei, primitive Instinkte und Leidenschaften hervor, aber auch geheime Ängste und abgründige Bilder aus dem Unbewussten. Und der innere Abstand zu den Lämmern und dem Bären, die Lucía de Nobile als besonderen Gag für die Gäste vorbereitet hatte und die nun durch die Villa irren, nimmt ab …

Darauf angesprochen, ob El ángel exterminador eine Parabel auf die Conditio humana sei, antwortete Buñuel, der Film sei vielmehr eine Parabel auf die „condición burguesa“, den Zustand der Bourgeoisie. Bei aller Schonungslosigkeit betreibt Buñuel deren Demaskierung mit grossem Sinn für Komik. Von pessimistischem Humor ist schliesslich auch die Selbstbefreiung aus dem Salon geprägt. Wer allerdings mit den „Schiffbrüchigen“ aufatmet und sich befreitem Lachen hingibt, dem wird es bald vergehen …

Mit seiner Verschmelzung von realistischen, surrealen und religiösen Elementen bildet El ángel exterminador die Summe von Buñuels Schaffen vor seinen späten französischen Werken. Thomas Adès hat den Film nun als Vorlage für seine dritte Oper gewählt: „Es ist Territorium, das ich sehr mag, denn es sieht so aus, als wären die Leute in einem Raum, doch es geht eigentlich nicht um diesen Raum – in Wirklichkeit sind sie in ihren eigenen Köpfen gefangen.“ Die abgeschlossene Situation verbindet das Sujet mit Adès’ beiden früheren Bühnenwerken: mit dem Hotelzimmer der Duchess of Argyll in seiner Kammeroper Powder Her Face (1995), über die im Observer kürzlich zu lesen stand, sie könne „bereits als ein moderner Klassiker gelten“, und mit Prosperos Insel in der Shakespeare-Oper The Tempest, die seit ihrer Londoner Uraufführung im Jahr 2004 u. a. auch das Publikum der Met und der Wiener Staatsoper beeindruckte und Adès’ Ruf als einer der aufregendsten (Opern-)Komponisten der Gegenwart weiter untermauert hat.

Der Librettist von The Exterminating Angel, Tom Cairns, der auch die Regie der Uraufführung übernimmt, hat die 21 Hauptpersonen von Buñuels Film auf 15 reduziert, indem er einige Figuren miteinander verschmolzen hat: eine immer noch erstaunliche Anzahl an Protagonisten, die The Exterminating Angel zu einer echten Ensembleoper macht. In musikalischer Hinsicht wird es folglich weniger um die Psychologie der einzelnen Figuren gehen als darum, die oft jäh wechselnde emotionale Temperatur der Kommunikation und der menschlichen Beziehungen, die individuellen und kollektiven Gestimmtheiten zu vergegenwärtigen. „Besonders in der Oper muss man sich mit der Schaffung von Atmosphäre, von emotionaler Atmosphäre befassen“, unterstreicht Adès; diese Atmosphäre dürfe jedoch nicht den Charakter einer dekorativen Beigabe haben, sondern müsse unmittelbar aus dem musikalischen Gewebe hervorgehen. Dass die Situationen in The Exterminating Angel so beharrlich ins Absurde und Surreale kippen, macht die Geschichte für Adès nur umso anziehender: der Musikwissenschaftler Richard Taruskin hat ihn bereits 1999 einen „surrealistischen Komponisten“ genannt, und Tom Service, einer der besten Adès-Kenner, bewundert nicht zuletzt, wie der Komponist selbst wohlvertraute musikalische Ingredienzen – etwa Dur- und Moll-Akkorde oder einfache Intervallfolgen – in ganz neues Licht taucht und „sie reichhaltig und fremdartig klingen lässt“.


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REGIE:
Thomas Adès
Amir Hosseinpour
PRODUKTION:
Tom Cairns
CAST:
Audrey Luna
Amanda Echalaz
Sally Matthews
Sophie Bevan
Alice Coote
Christine Rice
Iestyn Davies
MUSIK:
Thomas Adès
AUSSTATTUNG:
Tal Yarden
KOSTÜME:
Hildegard Bechtler

LAND:
USA
JAHR: 2017
LÄNGE: 147min